Krise, Antike und Flüchtlinge

 Info-Reise 

Jeder Ausschuss des Abgeordnetenhauses macht in den fünf Jahren der Legislatur eine Reise, um von anderen Ländern und Städten zu lernen und Kontakte zu knüpfen. Der Europaausschuss war jüngst in Athen. Griechenland ist von der Krise gebeutelt und kämpft gegen seine hohe Verschuldung, Arbeitslosigkeit und Armut. Die Staatsausgaben mussten drastisch heruntergefahren werden. Mit der Aufnahme von vielen tausend Flüchtlingen trägt das Land am geographischen Rand der Europäischen Union viele Lasten für die gesamte Gemeinschaft.

Zwischen Deutschland und Griechenland bestehen viele historische Bezüge. Das Pergamonmuseum zeigt Schätze aus dem antiken Hellas, der erste König von Griechenland, Otto I. (regierte 1832 bis 1862), war ein Wittelsbacher. Ein trauriges Kapitel sind die Verbrechen der Wehrmacht im zweiten Weltkrieg, die heute neue Diskussionen hervorrufen, s.u.

Für alle Stadtplaner hat die Charta von Athen Bedeutung, die die Ansprüche an die Stadt der Moderne beschreibt.
Einige deutsche Architekten haben ihre Handschrift in Athen hinterlassen, so etwa Walter Gropius. In Berlin wiederum ist mit jeder griechischen Säule ein Stück des antiken Athen verewigt. Markantestes Beispiel ist das Brandenburger Tor, das der Propyläen, der Vorhalle der Akropolis nachgebildet ist.
Viele Begegnungen mit griechischen Repräsentanten, den deutschen Institutionen vor Ort, aber natürlich auch die Begegnung mit der Stadt und ihrer Geschichte ließen die drei Tage zu einem höchst informativen Erlebnis werden.

Bericht und Fazit zur Informationsreise des „Ausschusses für Europa- und Bundesangelegenheiten, Medien“ nach Athen vom 5. bis 8. Oktober 2014 mit den Abgeordneten der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen Stefan Gelbhaar und Andreas Otto:

AUSGANGSSITUATION IN GRIECHENLAND

 

Folgende Zahlen verdeutlichen die Auswirkungen der großen wirtschaftlichen Krise Griechenlands: knapp 30Prozent Arbeitslosigkeit, unter den Jugendlichen sogar bis zu 50 Prozent. Die Griechinnen und Griechen müssen ihren Alltag mit bis zu 40 Prozent Vermögensverlusten managen, können Kredite nicht zurückzahlen und sind auf finanzielle Unterstützung aus dem Kreis der Familie angewiesen. Für diesen Herbst zeichnen sich jedoch erstmals seit Beginn der Krise leichte wirtschaftliche Verbesserungen ab. Die EU-Rettungsprogramme laufen aus und derzeit finden letzte Kontrollen durch die Troika aus Vertretern der EU-Kommission, der Europäischen Zentralbank und des Internationalen Währungsfonds statt.
Wie es danach weiter geht, ist offen.

BESUCH DES ABSCHIEBELAGERS AMYGDALEZA

Griechenland ist als Staat an der EU-Außengrenze erstes Ziel von Flüchtlingen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Viele Tausende versuchen jeden Monat die türkische Grenze auf der Flucht vor politischer Unterdrückung oder mit der Hoffnung auf ein besseres Leben zu überschreiten. Die griechische Regierung versucht mit Hilfe von FRONTEX die meisten davon abzuhalten. Weil der Landweg weitestgehend versperrt ist, sterben immer wieder Menschen bei dem Versuch, griechische Inseln auf dem Seeweg zu erreichen. Diejenigen, die Griechenland erreichen, werden von einer „Behörde für Erstaufnahme“ registriert und durchlaufen ein Asylverfahren.

Wegen der Nachrichten über permanente Menschenrechtsverletzungen hatte die Berliner Delegation auf bündnisgrünen Vorschlag hin darum gebeten, ein Flüchtlingslager besuchen zu können, was für das Abschiebelager „Amygdaleza“ im Norden Athens ermöglicht wurde. Die Situation der etwa 1700 Männer in diesem Gefängnis stellte sich als äußerst bedrückend dar. Die meisten stammen aus Pakistan, Afghanistan und Nordafrika, es werden ausschließlich Männer in diesem Lager festgehalten. Nach Ablehnung ihrer Asylanträge müssen sie in der mit dreifachem Stacheldraht umzäunten Einrichtung nach offizieller Auskunft bis zu 18 Monate auf die Abschiebung in ihre Heimatländer zubringen.

Die Herkunftsstaaten würden bzgl. der notwendigen Papiere nicht kooperieren und so die Abschiebung erschweren, so die Erklärung der anwesenden griechischen BehördenvertreterInnen. In direkten Gesprächen „durch den Zaun“ von Flüchtlingen mit den Abgeordneten Stefan Gelbhaar, Andreas Otto  und Clara West berichteten diese über noch wesentlich längere Aufenthalte als 18 Monate. In dem Gespräch mit den anwesenden Behördenvertretern wurde durch Mitglieder aller Fraktionen die Menschenrechtssituation, insbesondere der Zugang zu Rechtsbeiständen, Kontakt zu Freunden und Verwandten, die Versorgung und Möglichkeiten der Tagesgestaltung angesprochen und diskutiert. Auch die Ursachen für die Flucht aus der Heimat und die nicht nur aus griechischer Sicht nicht ausreichende Unterstützung der Europäischen Union kamen zur Sprache.

BESUCH IM GRIECHISCHEN NATIONALPARLAMENT

Ein Höhepunkt der Reise war zweifellos der Besuch im griechischen Nationalparlament. Uns empfing nicht nur der Vizepräsident und Vorsitzende des Europaausschusses, Ioannis Tragakis, sondern VertreterInnen aller Fraktionen. Die Veranstaltung zeigte, wie wichtig den griechischen VolksvertreterInnen die Diskussion mit deutschen ParlamentarierInnen zu europäischen Themen ist.
In einer Art Plenardebatte, die von den Sitzplätzen des großen Saales aus geführt wurde, ergriffen zunächst dieMitglieder des griechischen Parlamentes das Wort. In unterschiedlicher Ausprägung kritisierten die VertreterInnen der sieben Fraktionen die Politik der EU in der Krise und auch die europäische Förderpolitik in der aktuellen Programmperiode. Die Kritik zielte dabei ausschließlich auf die als zu gering empfundenen bereitgestellten Mittel. Explizit kritisiert wurde von vielen VertreterInnen die Sparpolitik, wie sie insbesondere die deutsche Bundesregierung vertritt. Daneben kamen Vorschläge zur Sprache, die auch in Deutschland diskutiert werden, etwa eine europäische Bankenunion, eine gemeinsame Steuerverwaltung und eine stärkere Wirtschaftsunion.

Die Fraktionen des Abgeordnetenhauses haben in ihren Beiträgen Verständnis für die Situation Griechenlands signalisiert. In der Aussprache betonte Andreas Otto die Hoffnung, dass Griechenland weiterhin zur EU und zum Euroraum gehören möge. Die griechische Erfahrung hoher Verschuldung, wirtschaftlicher Probleme und der Notwendigkeit von radikalen Einsparungen kennt auch das Land Berlin mit über 60 Mrd. Euro Schuldenberg.

AUSTAUSCH ZUM NEU-AUFBAU DES ÖFFENTLICH-RECHTLICHEN RUNDFUNKSENDERS NERIT

Griechenland hat in Folge der Krise und den Auflagen durch die Troika mit radikalen Reformen und Kürzungen im öffentlichen Sektor reagiert. Neben dem Bildungs- und Gesundheitssystem war auch der öffentliche Rundfunk massiv betroffen.

Mit einem von Regierungspräsidenten Samaras verantworteten radikalen Schnitt wurde der öffentliche Rundfunksender ERT im Juni 2013 ohne Vorwarnung abgeschaltet und die bis dahin 3000 Beschäftigten auf einen Schlag entlassen. Dieser politische Eingriff ist nicht nur in Deutschland und Europa auf heftige Kritik gestoßen. Bis heute halten die Proteste auch in Athen an, einige ehemalige JournalistInnen haben sich mit einem Internetradiosender selbständig gemacht.

Der heutige Präsident des Senders, der nun NERIT heißt, spricht vom Vorhaben einer großen Reform, die bis Ende
2014 abgeschlossen sein soll. Vorbild bei der technischen Ausrichtung sei u.a. das System des deutschen öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Durch das Gespräch mit der neuen Leitungsebene von NERIT wurde der Eindruck gestärkt, dass hier strukturell ein staatsnaher Rundfunk entsteht. Die Vertreter des Aufsichtsrates, die sich zur Regierungsnähe kritisch geäußert haben, sind in den vergangenen Wochen aus dem Aufsichtsrat ausgeschieden.

Stefan Gelbhaar betonte in seinem Beitrag die hohe Relevanz von unabhängigen öffentlich-rechtlichen Medien und fragte diesbezüglich nach. Es wurde mitgeteilt, dass die Neubesetzung durch die Staatsregierung erfolge. Der NERIT-Präsident erklärte, er glaube dennoch nicht, dass sich eine politische Einwirkung auf die programmatische Arbeit stattfinden werde und sich ein solcher staatlicher Eingriff noch einmal wiederholen könnte. Bei allen Bemühungen um eine inhaltliche und zeitgemäße Neuaufstellung von NERIT und dem Engagement einzelner JournalistInnen in den Programmsparten besteht unsererseits – leider – jedoch der Zweifel, wie sich bei der gesetzlichen Grundlage für die Besetzung von Aufsichtsratsmitgliedern wie auch die Finanzierungsstruktur ein regierungsferner und unabhängiger öffentlicher Rundfunk in Griechenland gesichert ist. Kritische Griechinnen und Griechen informieren sich inzwischen in hoher Zahl über viele neu etablierte und vielgelesene Blogs von investigativen JournalistInnen.

AIR – ATHENS STÄDTISCHES RADIO

Die Stadt Athen finanziert den Radiosender AIR, der zwei Programme über das Internet ausstrahlt. Das junge Team sendet ein Programm in griechischer Sprache und bietet ein internationales Programm, das mehrsprachig und in Zusammenarbeit mit der Deutschen Welle, Radio France und BBC gestaltet wird. Hier laufen Informationen über das Kulturleben in der Stadt Athen, Nachrichten und viel Musik. Seit mehr als zehn Jahren konnte sich der Sender etablieren und ist offen für einen Austausch mit deutschen Radiomachern, wie wir sie z.B. bei ALEX Berlin finden.

Der Sender begreift sich als privates unabhängiges Programm, auf Nachfrage von Stefan Gelbhaar wurde jedoch herausgearbeitet, dass die Stadt Athen für wesentliche Teile der Finanzierung aufkommt. Die verantwortliche Redakteurin für das deutsche Programm, Athena Korlira ist unter akorlira@air10044fm.gr zu erreichen. Lokalisiert ist AIR in einem umgebauten Gasometer in direkter Nachbarschaft zum Technologiepark INNOVATHENS.

INNOVATHENS

Das aus Sponsorenmitteln und über Stiftungsgelder sanierte ehemalige Gaswerk INNOVATHENS bietet heute ein Museum, Veranstaltungsräume und einen Co-working-Space.

Hier finden junge Selbständige und start-ups mit kreativem Ideenreichtum Raum zum Vernetzen im Bereich der technologischen Innovationen, Raum für Bildungsarbeit und zur eigenen Professionalisierung, für Präsentationen und Events verschiedenster Formate. All dies in charmanter Atmosphäre mit mobiler Raumeinrichtung und reichlich technischem Support.

Mehr als 600.000 BesucherInnen strömen zu diesem Athener Hotspot, der geprägt ist von Aufbruchstimmung, von großem Mut, viele Dinge auszuprobieren und von Mentoren, die mit Know-How und Geld neue Wege wirtschaftlicher Entwicklung begleiten. Von diesem Geist könnten wir uns noch einiges abschauen. Nach Vorbild von INNOVATHENS könnten z.B. auch in Berlin noch einige brachliegende Areale mit entsprechender Inspiration gefüllt werden.

GOETHE-INSTITUT ATHEN

Das Goethe-Institut in Athen war 1952 das erste Kulturinstitut, das vom deutschen Auswärtigen Amt im Ausland finanziert und gegründet wurde. Die Deutschkurse sind überbucht, und es werden die weltweit meisten Zertifizierungen von Deutschkenntnissen vorgenommen. Diese sind notwendig, da den Eltern und SchülerInnen ein Zeugnis der allgemeinbildenden griechischen Schulen als Nachweis nicht ausreicht.
Mit dem deutsch-griechisches Kulturportal diablog.eu werden individuell - und einmalig für einen Internetauftritt der Goethe-Institute - Beiträge zusammengestellt, die in griechischer und deutscher Sprache abrufbar sind und in einem interaktiven Format Details über Griechenlands Kultur und Gesellschaft bieten.

Während der Informationsreise wurde in den Gesprächen immer wieder darauf verwiesen, dass Bundespräsident Gauck erst 2014, also 70 Jahre nach Kriegende, für die Verbrechen der Deutschen Soldaten in mehr als 90 sogenannten Märtyrer-Dörfern um Entschuldigung gebeten habe. Von griechischer Seite sind Forderungen nach Reparationen und Entschädigungen für die Verbrechen der Wehrmacht geäußert worden, auf die die Bundesrepublik bisher nicht eingegangen ist und keinen Grund für Verhandlungen sieht. Die Forderungen nach Wiedergutmachung und Gerechtigkeit stehen im Raum und wirken auf die Beziehungen zwischen Deutschland und Athen, was sich auch in der Arbeit des Goethe-Instituts niederschlägt.

Der Leiter des Athener Goethe-Instituts, Dr. Matthias Makowski, setzt mit seinem Kulturprogramm auf intensiven Austausch zwischen deutschen und griechischen JournalistInnen, um das jeweilige Medienbild von populistischen Stereotypen zu entlüften. Wie sich jüngst in einem gemeinsamen Workshop von MedienmacherInnen aus Deutschland und Griechenland herausstellte, gibt es auf griechischer Seite eine Tendenz zur Bildung von Verschwörungstheorien aufgrund der Eroberung der Märtyrer-Dörfer im Jahr 1943, die gleichzeitig als Ursache für die Gefährdung der heutigen Unabhängigkeit Griechenlands gesehen wird.

Das Goethe-Institut und die Deutsche Botschaft in Athen sind gefordert unter derzeit angespannten Beziehungen zwischen Griechenland und Deutschland ein Geschichtskapitel aufzuarbeiten, bei dem höchste Sensibilität erforderlich ist.

Pankower Delegation (v.l.n.r.: Andreas Otto, Stefan Lenz, Stefan Gelbhaar; Alex Lubawinski, Clara West)

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